Mitten aus dem Menschenstrom

Der Greifswalder Raymond Jarchow stellt in Rostock seine Annäherungen an New York aus

Rostock (OZ) „Fremde Vertraute“ nennt der Greifswalder Raymond Jarchow die Stadt New York im Titel seiner Fotografieausstellung in der Rostocker Nikolaikirche. Aus fotografischer Sicht scheint im Zeitalter der Bilderflut die größte Stadt der Vereinigten Staaten von Amerika tatsächlich zu den vertrautesten Orten dieser Welt zu gehören. Vielleicht neben Paris gehört die Metropole wohl zu den meistfotografierten Städten.

   Künstlerische Fotografen wie Bruce Davidson, Weegee, Diane Arbus oder Andreas Feininger haben uns auf unterschiedlichste Weise ihr Bild von New York ins Gedächtnis gebrannt. Deshalb hat wohl jeder von uns, selbst wenn er – wie die meisten Europäer – noch nie dort war, seine bildnerische Vorstellung von dieser Stadt.

   Raymond Jarchow ging im April und Mai 2001 für acht Wochen nach New York, um die Stadt auf seine Weise mit der Kamera zu erkunden. 107 Schwarz-Weiß-Fotografien sind jetzt als sichtbares Ergebnis seiner Suche ausgestellt.

   Der Blick des Betrachters wird sofort auf Details gelenkt: Körper, die kopflos durchs Bild huschen, eine Einkaufstasche, das Drehkreuz der U-Bahn und immer wieder Hände, die zum Mikrokosmos des menschlichen Alltags werden. Die Empfindung des Anfangs war der gesichtslose Menschenstrom. Die Menschen der Stadt sind es auch, denen der Fotograf auf die Spur kommen will. Er sucht den Kontakt und dokumentiert diesen Weg gleichzeitig mit seiner Kamera. Und dies ist wohl das spannendste Moment der Ausstellung; der Besucher fühlt sich hineingesogen in die Geschäftigkeiten und die Ruhelosigkeit der Stadt. Die Fotografien zwingen immer wieder zum Innehalten, lassen teilhaben an den Geschichten der Straße. Raymond Jarchow sieht seine Fotografien auch in erster Linie als Angebot an den Betrachter, der „Platz nehmen“ soll im Bild.

   Die New Yorker beschreibt der 46-Jährige als „lichtscheu“. Die Hälfte seiner Bitten um ein Porträt wurden zunächst abgelehnt, berichtet er. So verlässt sich der Fotograf zunächst auch auf den Zufall. Die Automatikkamera hängt am kurzen Riemen vor der Brust, ohne Blick durch den Sucher wird ausgelöst. Der Körper wird gleichsam selbst zur Kamera, und die im Menschenstrom entstehenden Bilder überraschen ihrerseits durch ihre Körperlichkeit. Nur die überdimensionalen Gesichter der Werbetafeln schauen uns an. Später entstehen auch direkte Porträts, meist nach langen Gesprächen.

   Die Ausstellung ist in acht Gruppen zu verschiedenen Themen strukturiert. „Paare“ ist eines dieser Themen. Menschen werden auf den Fotos zum Paar durch Zufall oder Zeitlauf, oder sie sind Paare durch gemeinsames Leben oder Liebe. Einen Komplex hat Raymond Jarchow dem zweiwöchigen Aufenthalt seiner Frau Claudia Lohse gewidmet, deren Tagebuchsequenzen die Begleittexte zu Ausstellung sind. Durch ihre Ankunft verändert sich das Lebenstempo des Fotografen drastisch.

   Claudia Lohse ist Rollstuhlfahrerin, erkundet in ihrem elektrischen Gefährt die Stadt in einem anderen Rhythmus, aus einer anderen Sicht. Dass sie zudem die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zieht, erleichtert das Fotografieren und erschließt neue Kontakte. Die in diesen Tagen entstehenden Fotografien scheinen von Humor und besonderer Leichtigkeit beseelt.

   Raymond Jarchow arbeitete in New York mit Kleinbild- und Panoramakamera. Die Panoramafotografien wirken dabei nicht, wie so oft, als netter Effekt, sie weiten den Blick und integrieren sich so in das Gesamtkonzept. Die Arbeit mit „puristischer“ Schwarz-Weiß-Technologie ist für Jarchow, der sich eigentlich am Rechenzentrum der Greifswalder Universität mit elektronischer Bildbearbeitung und -archivierung beschäftigt, die ihm entsprechende Ausdrucksform. Den ausgestellten Fotografien ist eine sorgfältige Vollendung in der Dunkelkammer anzusehen.

   Die Ausstellung „New York – Fremde Vertraute“ ist noch bis 16. September in der Nikolaikirche Rostock zu sehen. Eine Webseite mit den ausführlichen Texten und einer Bildauswahl ist als Ergänzung der Exposition unter www.ny-fremde-vertraute.de zu finden.

THOMAS HÄNTZSCHEL

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